Wie wird das wirtschaftliche und soziale Umfeld in einer Welt nach Corona aussehen? Wird sich das Verhalten des Einzelnen als Konsumenten sowie das der Unternehmen ändern, sobald die Folgen der COVID-19-Pandemie bewältigt sind und der Erholungsprozess eingesetzt hat?
Im Folgenden führen wir fünf Szenarien auf, wie sich Konsumenten und Unternehmen verändern könnten.
Die Just-in-Time-Lieferung, die die Lagerhaltungskosten reduziert, und die Globalisierung der Versorgungslinien haben während der 1990er und 2000er Jahre das globale Wachstum angetrieben. Nach der globalen Finanzkrise hat sich der internationale Handel zwar erholt und wieder das Vorkrisenniveau erreicht – doch wurde es nicht deutlich übertroffen. Die COVID-19-Pandemie hat die Risiken weit entfernt liegender Produktionsquellen und eines unzureichend diversifiziertes Lieferantennetzwerk verdeutlicht.
Der Bedarf an näher gelegenen bzw. diversifizierteren Lieferquellen ist sowohl für Unternehmen, die auf eine pünktliche Lieferung der Komponenten angewiesen sind, offensichtlich wie auch für nationale Regierungen, die die Risiken einer Abhängigkeit von ausländischen Produzenten grundlegender Güter erkennen – von Medikamenten bis hin zu Mikrochips. Unternehmen können auch eine umfangreichere Bevorratung wichtiger Komponenten in Betracht ziehen.
Eine Umkehrung der Globalisierung durch die Pandemie ist unwahrscheinlich und der Handel zwischen den Nationen wird sich fortsetzen. Doch war bereits vor dem Virusausbruch Protektionismus auf dem Vormarsch: Die aktuelle Krise bestärkt in vielerlei Hinsicht das Argument, dass nationale Regierungen die heimische Produktion ausbauen oder zumindest kritische Güter aus den Nachbarländern beziehen sollten, und gibt dem privaten Sektor einen neuen Impuls, die Versorgungslinien zu diversifizieren.
Eine neue Technologie, die möglicherweise sehr starken Rückenwind erhalten wird, ist schließlich eine „Just-in-time“-Technologie – die ultimative Lokalisierung der Produktion: der 3D-Druck, der beispielsweise bereits zur Herstellung von Ventilen für Beatmungsgeräte und Gesichtsmasken eingesetzt wird. Weitere Unternehmen dürften nach Corona ihr Potenzial ausschöpfen wollen.
In den letzten Wochen hat die Weltbevölkerung einen Crashkurs in virtuellen Meetings und Telearbeit absolviert. Wenn die Pandemie erst einmal überstanden ist, werden viele Menschen eine enorme Erleichterung verspüren, in ihre Büros zurückkehren und wieder persönlichen Kontakt zu ihren Kollegen und Kunden zu haben. In vielen Dienstleistungssektoren sind sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber für die Möglichkeit sensibilisiert, von zu Hause aus oder von einem anderen Ort außerhalb des Büros zu arbeiten.
Sobald die Geschäftstätigkeit in Büros wieder aufgenommen wird, könnte sich weltweit ein neues Gleichgewicht einstellen, bei dem wesentlich mehr Menschen im Homeoffice arbeiten als früher und somit weniger Menschen öffentliche Verkehrsmittel oder das eigene Auto für den Weg zur Arbeit nutzen. Dies wird sich sowohl auf den Energie- als auch auf den Büroflächenbedarf auswirken. Wenn es nicht zu einer raschen, V-förmigen Erholung der Wirtschaft kommt, werden Unternehmen unter Druck geraten, Kosten zu reduzieren; dabei bietet ein geringerer Büroflächenbedarf eine Möglichkeit zur Kostensenkung, ohne Talente zu verlieren. Unternehmen, die weniger Kosten für die Nutzung von Büroflächen ausgeben, haben mehr Geld für andere Zwecke zur Verfügung. Die eingesparte Reisezeit zum Arbeitsplatz könnte für Arbeitnehmer, die zuvor lange Pendlerstrecken hinnehmen mussten, höhere Produktivität sowie mehr Zeit für Familie und Freunde bringen. Büros und Pendler werden sicher nicht verschwinden, aber die Krise könnte die Welt auf einen Weg in Richtung einer neuen, andersartigen Work-Life-Balance bringen.
In welchem Umfang sind Geschäftsreisen wirklich notwendig? Inwiefern können die mittels Geschäftsreisen erreichten Ergebnisse auch durch den Einsatz von Kommunikationstechnologien erzielt werden? Es gibt sicherlich viele Argumente für persönliche Gespräche und Gruppenzusammenarbeit. Persönliche Meetings erleichtern die Kommunikation in einem so großen Maße, dass sogar die besten Kommunikationstechnologien nicht mithalten können. Sobald das Reisen wieder als sicher gilt, wird die Zahl der Geschäftsreisen erneut ansteigen. Aber wie lange wird es dauern, bis das Niveau von 2019 erreicht werden? Das dürfte nicht so schnell der Fall sein. Für viele Unternehmen sind Geschäftsreisen – wie Büromieten – ein erheblicher Kostenfaktor. Zudem sind sie nicht nur kostenintensiv für Arbeitgeber, sondern auch extrem zeitaufwendig für Arbeitnehmer. Wenn sich die globale Wirtschaft nur langsam erholt, dürfte sich die Erholung für Fluggesellschaften und Hotels, die auf Geschäftsreisende ausgerichtet sind, nur sehr schleppend einstellen. Dies wird sich auch auf den Energieverbrauch auswirken.
Vor dem Ausbruch des Virus hatten die meisten Verbraucher die Wahl zwischen Einkaufen im Laden und Online-Shopping. Angesichts der weitreichenden Schließung von Geschäften weltweit könnte der Online-Handel die einzige Option sein, um an viele Waren heranzukommen.
Bereits vor der Pandemie stand der klassische Einzelhandel unter erheblichem Druck: Im Jahrzehnt vor der globalen Finanzkrise standen in den USA ca. 5,5 % der Läden in Einkaufszentren („Shopping-Malls“) leer. 2019 stieg diese Zahl auf 9,5 %, bis sie sich zwischen 2014 und 2018 schließlich bei ca. 8 % einpendelte. Die Leerstandsquoten der Shopping-Malls sind 2019 auf 10 % gestiegen; damit wurden die höchsten Leerstände aus den Zeiten der Finanzkrise übertroffen, obwohl das Konjunkturwachstum einen Höhepunkt erreicht hatte (Abbildung 1). Und das war lange bevor die meisten Menschen etwas von dem Coronavirus gehört hatten. Der stationäre Handel wird nicht verschwinden, aber da sich die Belegungsquoten nie vollständig von der globalen Finanzkrise erholt hatten, könnte es für Vermieter diesmal noch schwieriger sein, Mieter für Läden und Einkaufszentren zu finden. Außerdem könnten sich stationäre Ladenflächen zu reinen Showrooms wandeln, in denen der Kunde die ausgestellten Produkte unmittelbar erleben kann, um diese später im Internet zu bestellen. Die Wandlung des Einzelhandels vom Profit-Center hin zu einem ausstellungsähnlichen Cost-Center könnte einen starken Einfluss auf die Bereitwilligkeit und Fähigkeit der Ladenbesitzer haben, die Miete zu zahlen.
Angesichts der Stilllegung großer Bereiche der Weltwirtschaft wurden soziale Sicherungsnetze wie nie zuvor auf die Probe gestellt: Viele Länder haben das Arbeitslosengeld auf Werktätige ausgeweitet, die davon üblicherweise nicht profitieren, Zuschüsse geleistet, damit Arbeitgeber freigestellte Mitarbeiter weiter bezahlen können, sowie Unterstützung für Mietzahlungen etc. bereitgestellt. Dessen ungeachtet könnten viele zum Schluss kommen, dass höhere Bargeldbestände den beste Schutz vor künftigen unerwarteten Störungen bieten – wie sie dies bereits nach der globalen Finanzkrise geschlussfolgert hatten. In den Jahren vor dieser Krise lag die Sparquote in den USA auf historischen Tiefstständen. Ab 2009 begannen die US-Bürger, wieder Ersparnisse aufzubauen – trotz Zinsen auf Bankeinlagen nahe Null (Abbildung 2). Nach der aktuellen Krise könnte die Sparquote wiederum ansteigen.
Bei stark steigenden Staatsschulden könnte sich die Verschuldung der Privatwirtschaft abbauen – ein Trend, der nicht nur auf private Haushalte begrenzt sein könnte: Anstatt Kredite aufzunehmen, um Aktien zurückzukaufen oder Gewinne als Dividenden auszuschütten, könnten Unternehmen einen höheren Anteil ihrer Gewinne einbehalten. In den kommenden zwölf Monaten könnte das US-Haushaltsdefizit auf 20-25 % des BIP steigen; die öffentliche Verschuldung könnte von 104 % Ende 2019 auf rund 130 % in einem Jahr anziehen (Abbildung 3). Ein Teil dieses Anstiegs der öffentlichen Verschuldung könnte dadurch kompensiert werden, dass der Verschuldungsgrad privater Haushalte und Unternehmen zurückgeht. Diesen Effekt haben wir in Folge der globalen Finanzkrise beobachtet; er steht im Einklang mit Entwicklungen in anderen Ländern mit einem hohen öffentlichen Verschuldungsgrad (wie z.B. Italien und Japan).
Sobald sich die aktuelle Krise entspannt hat, werden sich viele Dinge normalisieren: Importe und Exporte werden wieder anlaufen. Geschäfte werden wieder geöffnet. Die Menschen werden in ihre Büros zurückkehren und Dienstreisen werden wieder aufgenommen. Doch wird sich das, was 2021 oder 2022 als normales Verhalten gilt, deutlich davon unterscheiden, was Anfang 2020 als „business as usual“ galt.
Alle in diesem Bericht dargestellten Beispiele sind hypothetische Interpretationen und werden nur zu Erläuterungszwecken verwendet. Die in diesem Bericht dargestellten Sichtweisen sind ausschließlich die Meinung des Autors, nicht notwendigerweise der CME Group oder ihrer verbundenen Unternehmen. Dieser Bericht und die darin enthaltenen Informationen sind nicht als Anlageberatung oder als Ergebnis tatsächlicher Markterfahrungen aufzufassen.
Erik Norland ist Executive Director und Senior Economist der CME Group und somit für die wirtschaftlichen Analysen der globalen Finanzmärkte verantwortlich. Dabei identifiziert er aufkommende Trends, bewertet wirtschaftliche Faktoren und prognostiziert deren Auswirkungen auf die CME Group und ihre Geschäftsstrategie sowie auf die Anleger, die an den verschiedenen Märkten des Unternehmens handeln. Er ist außerdem einer der Sprecher der CME Group für Themen, die die globale wirtschaftliche, finanzielle und geopolitische Lage betreffen.
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